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ARCHIV - Ein gemaltes Bild mit dem Schriftzug "Help" im Gebäude des Kindernotdienstes in Berlin (Foto vom 14.04.2008). Der Kindernotdienst ist rund um die Uhr erreichbar und leistet in Krisensituationen "Erste Hilfe" für alle Berliner Bezirke. Außerdem stellt er kurzfristige Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche zur Verfügung und vermittelt weitergehende Hilfen. Foto: Soeren Stache dpa/lbn (zu dpa:"Jugendliche nutzen häufiger Notdienste" vom 10.04.2012) +++ dpa-Bildfunk +++

© picture alliance / dpa

„Den Drehtüreffekt wollen wir verhindern“: Kindernotdienst in Berlin wird erheblich ausgebaut

Der Brandbrief des Kindernotdienstes zeigt Wirkung: Der Kinderschutz wird ausgebaut, mit mehr Personal und mehr Geld. In Rahnsdorf wurde ein neuer Standort eingerichtet.

Der ausladende Raum mit dem Kickertisch und der grau-grünen Couchgarnitur ist sonnendurchflutet. An der Wand steht ein meterlanges Bücherregal mit sieben Reihen. Es ist 13 Uhr an diesem Tag im Mai, nur im obersten Regal sind zu dieser Zeit Bücher aneinander gereiht, zu hoch für neun- bis 13-jährige Kinder. Aus gutem Grund. Die Minderjährigen würden die Bücher durch die Gegend werfen.

In diesem mehrstöckigen Haus mit Garten wohnen Kinder mit traurigem Schicksal. Sie wurden geschlagen, vernachlässigt, missbraucht, abgelehnt von ihren Eltern, sie kommen aus zerrütteten Verhältnissen, sie sind aggressiv und schwer berechenbar. Sie sind ein Fall für den Kindernotdienst.

In Rahnsdorf erfahren die Kinder ungewohnte Nestwärme

Genau deshalb leben sie hier, in einer ruhigen Straße in Rahnsdorf. Sie werden hier mit einer Nestwärme aufgefangen, die sie bisher nicht kannten. Die Sozdia-Stiftung hat im Januar begonnen, die „Kinderwohngruppe Hafen“ aufzubauen, jetzt ist sie mit sieben Plätzen voll funktionsfähig.

Am Mittwoch haben Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) und ihr zuständiger Staatssekretär Falko Liecke (CDU) die Einrichtung besichtigt. 14 Mitarbeiter kümmern sich hier rund um die Uhr um Kinder und Jugendlichen, die in anderen Einrichtungen teilweise mehrmals herausgeflogen sind.

Rahnsdorf ist auch eine Reaktion auf einen Brandbrief

Die Einrichtung in Rahnsdorf ist eine direkte Reaktion auf den Brandbrief, den Mitarbeiter des Kindernotdienstes in Kreuzberg vor fast einem Jahr an Günther-Wünsch geschickt hatten. Eine Anklage des Schreckens: Personalmangel, Selbst- und Fremdverletzung von Kindern und Jugendlichen, sexualisierte Übergriffe, Kinder, die sich mit spitzen Gegenständen und Messern gegen andere Kinder wehrten, die Polizei als Dauergast.

„Wir hatten einen enormen Platzbedarf“, sagt die Senatorin am Mittwoch. „Ziel muss es sein, zu einem Zustand zu kommen, dass wir Kinderschutz optimal gewährleisten können.“ Davon allerdings ist Berlin noch weit entfernt. Derzeit gibt es 48 Plätze für Kinder und Jugendliche, die aufgrund einer akuten Kindeswohlgefährdung in Obhut genommen werden müssen.

Aber allein rund 100 extrem verhaltensauffällige Kinder benötigen einen Platz, in dem sie so lange bleiben können, bis sie die für sie passende dauerhafte Einrichtung gefunden haben. Die Kinder von Rahnsdorf gehören zu dieser Gruppe.

Der Kindernotdienst ist nur für einen Kurzaufenthalt gedacht

Der Kindernotdienst, in dem sehr schwierige Kinder teilweise wochenlang leben müssen, ist eigentlich nur für einen Kurzaufenthalt gedacht. Danach sollen die Kinder in für sie passende Einrichtungen weitergeleitet werden. Doch passende Plätze sind rar. Stattdessen landen sie in Einrichtungen, in denen sie nicht klarkommen.

Gewirkt hat der Brandbrief trotzdem. „Wir haben beim Kinder- und Jugendnotdienst alles von links auf rechts gedreht“, sagt Liecke. Rahnsdorf zum Beispiel ist als vierter Standort des Berliner Notdienstes Kinderschutz aufgebaut worden, es gibt 14 neue Stellen im gesamten Notdienst, elf Millionen Euro werden jetzt in diesen Bereich gepumpt, drei mehr als noch vor einem Jahr. Und im August wird in Frohnau eine Einrichtung für Mädchen und junge Frauen zwischen 13 und 21 Jahren eröffnet. Fünf Plätze wird es dort geben.

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So viele Kinder sind allein zwischen Christi Himmelfahrt und dem darauffolgenden Sonntagabend im Kindernotdienst aufgenommen worden.

Und Rahnsdorf steht auch für einen bedeutsamen inhaltlichen Wechsel. Der Träger verpflichtet sich, kein Kind abzugeben. Massives Fehlverhalten führt nicht zum Rauswurf. Bisher kannten viele sehr auffällige Kinder nur den Drehtüreffekt: Rausgeflogen auf einer Einrichtung, Rückkehr zum Kindernotdienst, nächste Einrichtung, nächster Rauswurf, wieder Kindernotdienst.

Weg zum Drehtüreffekt, der vielen Betroffenen schadet

„Diesen Drehtüreffekt wollen wir verhindern“, sagt Liecke. In jedem Bezirk soll ein Träger, der eine Kriseneinrichtung betreibt, sich verpflichten, die Kinder zu halten, solange es nötig ist. Fünf Millionen Euro zusätzlich zu den elf Millionen werden dafür bereitgestellt.

Der längerfristige Aufenthalt zahlt sich zumindest bei einem 13-Jährigen in Rahnsdorf aus. Für ihn war der Drehtüreffekt Alltag – er hatte die Rauswürfe regelrecht provoziert, weil er so Aufmerksamkeit erhalten hatte. In Rahnsdorf wirkt das nicht, dafür aber gibt es mit dem Jugendlichen intensive Beziehungsarbeit. Mit Erfolg: Wochenlang hatte er sein Zimmer verwahrlosen lassen, seit zwei Wochen räumt er es auf. Ein Riesenerfolg. Wie nachhaltig dieser Erfolg ist, weiß niemand. Aber hier gilt die Politik der kleinen Schritte.

645 Kinder und Jugendliche wurden 2023 in Akutsituationen aufgenommen

645 Minderjährige sind im vergangenen Jahr im Kinder-, Jugend- und Mädchenotdienst aufgenommen worden. 128 von ihnen waren schon mehrfach da. Insgesamt stehen in der Hauptstadt 8386 Plätze in Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtungen und anderen Wohnformen zur Verfügung, dazu zählen auch betreutes Einzelwohnen und Wohngemeinschaften. Aber viele sind keine sehr schweren Fälle.

Doch im akuten Krisenbereich ist die Situation unverändert hochproblematisch. Das hat sich im Zeitraum zwischen Christi Himmelfahrt und Sonntagabend gezeigt. In diesen vier Tagen wurden dem Kindernotdienst 28 Minderjährige gebracht. Einem gewalttätigen Vater wurden sechs Kinder gleichzeitig weggenommen.

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