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Karl Köckenberger

© privat

Nachruf auf Karl Köckenberger: Die Sache mit dem Zirkus

Er konnte Leuten auch richtig auf die Nerven gehen. Von nichts kommt nichts

Karl kaufte zwei Einräder. Das eine war für David, seinen Sohn. Das andere für Leila, seine Tochter. Mirko, sein drittes Kind war noch zu klein. Drei Kinder hatte Karl, würde er immer haben, so sagte er es auch, nachdem David mit elf verunglückt war.

Da stand Karl also mit David und Leila auf der Lausitzer Straße in Kreuzberg, Anfang der 1990er war das. Die Kinder setzten sich auf ihre Einräder, hielten sich an Karls Schulter fest, und los ging es. Kinder aus der Nachbarschaft, türkische wie deutsche, wollten das auch. Also kaufte Karl zwölf weitere Einräder, und sich selbst ein Buch übers Einradfahren. Sie übten, wurden besser, traten bei Kiezfesten auf. Und strahlten, wenn die Leute klatschten.

So kam Karl auf die Sache mit dem Zirkus, eine jener Ideen, von denen ihn niemand abhalten konnte, und alle mitziehen mussten. Er fand Artisten mit Jonglage, mit Stelzen, er entwickelte ein Ferienprogramm für 200 Kreuzberger Kinder, er beschaffte ein Zirkuszelt, ein zweites. Bezirksämter stellten Plätze zur Verfügung, Bauwagen wurden beschafft, eine Handvoll ABM-Stellen. Karl klapperte die Ämter ab, schwärmte, bettelte, forderte. Er konnte Leuten auch richtig auf die Nerven gehen. Von nichts kommt nichts.

Ein Totenkopf hinter seinem Schreibtisch

Es war das Jahr 1995 und damit der Beginn von „Cabuwazi“, dem Berliner Kinder- und Jugendzirkus. Und es war das Jahr, in dem David mit dem Schülerladen über Pfingsten ins Wendland fuhr. Hier gab es eine große Kuhle, aus der Sand abgefahren wurde. David und sein Freund erkundeten sie, gruben eine Höhle, immer tiefer und tiefer, bis sie plötzlich einbrach. David drinnen, der Freund draußen.

Zum Abschied lag David zwei Tage bei ihnen zu Hause, alle konnten kommen, ihn noch einmal sehen, sich verabschieden. Dann gab es einen großen Kinder-Zirkus-Umzug für David durch die Straße. Karl weinte. Und er sagte, dass David in der Familie und im Zirkus weiterleben würde. Leila, Davids Schwester, sagt: „David war die ganze Zeit bei uns, das habe ich als sehr wertvoll empfunden.“

Der Tod war von da an ein Teil ihres Lebens. Karl stellte einen Totenkopf hinter seinen Schreibtisch. Doch er versank nicht, im Gegenteil, der Zirkus und die Arbeit mit den Kindern wurden umso wichtiger.

Seine eigene Kindheit hatte Karl in Franken verbracht. Sie waren sechs Kinder, er war der Dritte. Der Vater war Arzt, die Mutter Lehrerin. Ein großes Haus, ein großer Garten, jedes Kind hatte ein eigenes Zimmer, lernte ein eigenes Instrument, Karl das Cello. Im großen Wohnzimmer gaben sie Hauskonzerte. Es gab einen Pool und ein kleines Fußballfeld im Garten. Karl ruderte, ging zu den Pfadfindern, fuhr zu den christlichen Jugendtreffen in Taizé.

Zur Bundeswehr wollte Karl nicht, vor einem Richter musste er seine Entscheidung verteidigen. Statt schießen zu lernen, arbeitete er als Pfleger zwei Jahre lang in einem Krankenhaus. Danach zog es ihn nach Indien, wo er Mutter Teresa half. Der Glaube, die Armut konfrontiert, das einfache Leben – all das veränderte ihn. Als er wiederkam, wusste er, dass er nicht wie der Vater Arzt werden würde.

Schlosser bei Krupp

Das Theologiestudium war auch nichts für ihn, zu abgehoben, zu theoretisch. Er lernte die kleinen Brüder Jesu kennen, fühlte sich ihrer Lehre hingezogen, mit den Menschen am Rande der Gesellschaft zu arbeiten und zu leben. Karl arbeitete auf dem Bau, überlegte lange, ob er dem Orden als Bruder beitreten sollte. Und entschied sich auch dagegen. Statt dessen zog er nach Berlin.

Anfang der 80er, Karl lernte Schlosser bei Krupp und blieb dort sein ganzes Arbeitsleben. Er baute an U-Bahnbrücken und Schulturnhallen mit, an der Nationalgalerie und an der Max-Schmeling-Halle. Dann wurde er Betriebsrat. Wenn Standorte verlegt oder Kollegen entlassen werden sollten, stiefelte er in die Chefetage. Oder er verrammelte das Werkstor und kettete sich davor, wenn es hieß, dass Maschinen abtransportiert werden sollten.

Als in der Lausitzer Straße in Kreuzberg leerstehende Fabrikgebäude besetzt wurden, war Karl mit dabei. Riss raus, baute ein, schleppte Stahlträger, debattierte auf Plenen, ging in den Besetzerrat. Er hatte so viel zu tun, dass er die Gemeinschaftsklos lieber immer gleich am Anfang des Monats putzte, damit er es ja nicht vergaß. Es entstand die Regenbogenfabrik: Fahrradreparatur, Kino, Kantine, Kinderhort, Hostel und gemeinsames Wohnen.

Karl lernte Johanna kennen, verliebte sich, sie zog in die Fabrik, es gab eine große Kiezhochzeit. Und bald drei Kinder, wobei es Johanna war, die zu Hause blieb und die Organisation des Alltags übernahm. Streit gab es selten, wenn sie etwas mit ihren Kindern klären mussten, kamen alle zusammen.

Von sechs bis sieben meditierte Karl, abends auch noch einmal, dann durfte niemand stören. Wenn die Kinder ihn dennoch etwas fragten, antwortete er nicht. Was auch praktisch war: Papa, ich habe eine schlechte Note geschrieben. Papa, heute Nachmittag gehe ich noch zu einer Freundin. Papa hörte, aber Papa antwortete nicht.

Im Sommer wanderten sie, im Winter fuhren sie Ski, wobei es sein konnte, dass Karl vorher abreiste, wenn es im Werk oder im Zirkus brannte, der inzwischen sechs Zelte in der ganzen Stadt und viele hundert Kinder hatte, die täglich trainierten. Jeder war willkommen.

Claudia war gekommen, um Ordnung ins Unterlagenchaos des Zirkus zu bringen. Während sie wirbelte, verliebte sich Karl in sie. Sie hatten dieselbe Energie, dasselbe Verständnis, dass man mit dem Zirkus noch so viel mehr machen konnte. Gleichzeitig konnten sie sich streiten, dass die Fetzen flogen. Lebendig war es zwischen Karl und Claudia, mit der ganzen Palette an Gefühlen. „Wie in einer zweiten Pubertät“, sagt Leila, Karls Tochter.

2020: Diagnose Lungenkrebs. Obwohl er nie geraucht und getrunken hatte. Der Krebs war Karls nächstes Projekt, er las, bereitete sich auf die Arztbesuche vor, probierte neue Behandlungsmethoden aus. Dann noch ein Zirkusprojekt in den Flüchtlingslagern von Lesbos und ein Waisenhaus in Malawi. Und seine Enkel, mit denen er spielte und lachte.

Auf einmal wurde er still, las nicht mehr, hörte keine Musik, hatte keinen Hunger mehr, schaute einfach nur aus dem Fenster und auf den Kanal. Bis er starb, am 5. Dezember.

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