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Kultur: Ein Bild sagt mehr als 1000 Fotos

Die Royal Academy London feiert Edouard Manet als „Maler des modernen Lebens“.

Genau 150 Jahre ist es her, dass Edouard Manets Gemälde „Frühstück im Grünen“ einen Skandal entfachte. Die Jury des Pariser Salon, der alljährlichen, geschmacksbildenden Verkaufsschau, wies die Darstellung einer Picknickgruppe mit nackter Dame und Herren in zeitgenössischer Kleidung 1863 empört zurück. Niemand verstand, was das Bild zeigen sollte: eine geschichtliche oder mythologische Begebenheit, eine Alltagsszene oder etwas anderes?

Die Kuratoren der Ausstellung „Manet: Portraying Life“ in der Royal Academy London haben sich für eine Einordnung als Porträt entschieden. Denn die nackte Dame ist Manets bevorzugtes Modell zwischen 1862 und 1872, Victorine Meurent. In London ist nicht die große Endfassung des „Frühstücks“ zu sehen, sondern eine kleinere und skizzenhaftere, aber doch vollständig ausgeführte Fassung.

Der Vergleich beider Bilder wäre erhellend, denn Manet wechselte seinen „Stil“, seine Malweise, seine Auffassung von Thema und Gegenstand. Das ist anhand der Porträts, die noch nie zusammenhängend gezeigt worden sind wie jetzt in London, sehr deutlich nachzuvollziehen. Ambivalenz charakterisiert Manets ganzes Oeuvre; wechselhaft die Malweise, unterschiedlich in Sujet und Aussage. Manet malt einen Künstlerbohémien in Lebensgröße als voll ausgeführtes Porträt und den großen Politiker Georges Clemenceau in einer flachen Skizze. Er vertieft sich bei den Bildnissen seiner Gesinnungsfreunde Zacharie Astruc oder Émile Zola in sprechende Details, um Charakter und Haltung der Dargestellten zu erläutern, oder er stellt „Raucher“ oder eine „Straßensängerin“ als bloße Typen dar.

Man kommt nicht umhin, die Unsicherheit in der Einordnung der Gemälde Manets in der Zusammenstellung der Londoner Ausstellung durch Mary Anne Stevens und Lawrence Nichols wiederzufinden. Der gemeinsame Nenner, auf den sich alle Manet-Interpreten stets einigen können, ist die Würdigung Manets als „Maler des modernen Lebens“. Denn Manet malt nicht nur Zeitgenossen, das tun etliche Salonmaler genauso. Sondern er übersetzt traditionelle Bildschemata in seine Gegenwart und entkleidet sie ihres mythologischen Gehalts, so beim „Frühstück im Grünen“, das schon Aby Warburg als modernes Belegstück „zum Problem der überlebenden Kraft antikisierender Vorstellungen“ entschlüsseln konnte. Nur ist eine unbekleidete Allerweltsperson keine nackte Göttin der Antike.

Das viel zitierte Wort vom peintre de la vie moderne hat Charles Baudelaire geprägt, jedoch nicht auf Manet gemünzt, wie überhaupt die Charakterisierung, die der Dichter-Essayist entfaltet, auf Manet gar nicht recht passen will. Allein in dem Zwiespalt, der Manet kennzeichnet, ist er „modern“. Denn einerseits hält sich Manet strikt an das, was er vor sich sieht. Andererseits ist er ein großer Verehrer und Verwandler der malerischen Tradition, die er zumal bei den Spaniern, bei Velázquez findet.

Manet hat stets abgelehnt, gemeinsam mit den Impressionisten auszustellen, mit denen er doch durchweg befreundet war. Stets wollte er im Salon vertreten sein, und so oft seine Einreichungen zurückgewiesen wurden, so oft wurden weitere auch akzeptiert. Angenommen wurde 1873 das Gemälde „Die Eisenbahn“, das letzte Bild, in dem Victorine Meurent auftritt. Der Bildtitel verwirrt. Denn eine Eisenbahn ist nicht zu sehen; nur weißer Rauch, der aus einer unbestimmten Tiefe emporquillt. Das Bild zeigt eine junge, modisch bis zur Aufdringlichkeit gekleidet Frau, neben der ein offenkundig höheres Töchterlein durch ein eisernes Gitter in ebenjene Tiefe hinabblickt.

Manet hat einen ihm wohlvertrauten Ort gewählt, die Gleise vor dem Bahnhof Saint-Lazare, in dessen unmittelbarer Nähe er seine wechselnden Ateliers hatte. Nur was Manet malt oder besser andeutet, ist eine Collage aus Teilansichten, die so nicht zusammengehören können. Und dann das Gitter, das zwar exakt dem Gitter des schmalen Gartens entspricht, in dessen Perspektive das Bild entstanden ist, aber das zugleich als eine Trennlinie fungiert zwischen der unbeschwerten Spätsommerszene von Frau und Kind und dem technisch-industriellen Getriebe der Eisenbahn, dem damaligen Inbegriff des Fortschritts überhaupt.

Bei der Ausdeutung eines so vielschichtigen Werkes wie der „Eisenbahn“ belassen es die Kuratoren jedoch nicht. Ihnen ist es wichtig – und darum organisieren sie die 100 Leihgaben bewusst nicht chronologisch, sondern nach Sujets –, die unterschiedlichen Malweisen herauszustellen. Die Modernität Manets, so wird suggeriert, bestehe in der Auflösung einer traditionellen Malweise und im Sichtbarmachen des Malens als solchem.

Nur hat die modernité, die Baudelaire meinte, mit dem, was als „moderne Kunst“ längst zur Beliebigkeit verdünnt ist, nicht viel gemein. Denn die Konventionen, gegen die sich Manet auflehnte, gibt es nicht mehr. Erst auf deren Hintergrund jedoch wird die Haltung Manets verständlich.

Eine andere Frage, die die Ausstellung nur sehr sparsam angeht, ist die des Verhältnisses zur Fotografie. Manet sammelte Fotografien, wie so ziemlich jedermann in seiner Zeit der allenthalben sprießenden Fotostudios. Aber er benutzte sie nicht als Vorlage. Ihm war wohl bewusst, dass die Malerei den Kampf um die Abbildung der sichtbaren Realität bereits verloren hatte; etwas, was die Salonmaler partout nicht wahrhaben wollten. Manet hält der Indifferenz des fotografischen Abbilds die psychologische Durchdringung entgegen. Gerade darum wäre es angebracht gewesen, Manets Gemälde durchweg mit Fotografien der Porträtierten zu vergleichen.

In London wird die Ausstellung als blockbuster angekündigt. Die Royal Academy, die zur Finanzierung ihres ambitionierten Programms ausschließlich auf Eintrittsgelder angewiesen ist, wird gewiss den prophezeiten Ansturm erleben. Auch wenn Manet zu den am häufigsten gezeigten Künstlern des 19. Jahrhunderts zählt – eine solche Übersicht zu einem zentralen Bereich seiner Malerei wird es lange nicht mehr geben.

London, Royal Academy, Piccadilly, bis 14. April. Katalog 21,95 Pfund. Mehr unter www.royalacademy.org.uk

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