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Meinung: Du sollst nicht begehren

„Verbotene Geschwisterliebe“ vom 23. November In der Debatte um die Strafbarkeit des Inzests, auch in den Urteilen der höchsten Gerichte Deutschlands und Europas, kommt ein Aspekt anscheinend überhaupt nicht vor, die Frage nämlich, wann und warum die Inzestverbote und Heiratsregeln überhaupt entstanden sind.

„Verbotene Geschwisterliebe“

vom 23. November

In der Debatte um die Strafbarkeit des Inzests, auch in den Urteilen der höchsten Gerichte Deutschlands und Europas, kommt ein Aspekt anscheinend überhaupt nicht vor, die Frage nämlich, wann und warum die Inzestverbote und Heiratsregeln überhaupt entstanden sind.

Man muss längst nicht mehr auf den Freud’schen Urvater zurückgreifen, um einen Erklärungsversuch zu finden: Inzwischen kann man in den verschiedenen Publikationen des Literaturwissenschaftlers und Anthropologen René Girard eine plausiblere Hypothese nachlesen: Sehr vereinfacht beinhaltet sie, dass das auf die Personen der nächsten Umgebung gerichtete sexuelle Begehren von den Ursprungsgesellschaften unterbunden werden musste, um einen zerstörerischen Streit zu vermeiden. Die Gefährlichkeit des Begehrens für die archaischen Gesellschaften wird verstärkt durch die menschliche Eigenschaft, sich am Verhalten anderer Menschen zu orientieren, auch und vor allem wenn es um das sexuelle Begehren geht. Man begehrt, wen auch der Nachbar oder die Nachbarin begehrt. Wir alle kennen noch das mosaische Gebot: „du sollst nicht begehren deines Nächsten ...“

Die sehr frühen Gesellschaften waren von diesem ,mimetischen’ Begehren, wie Girard diese Eigenschaft nennt, vor allem deswegen bedroht, weil sie kein unabhängiges Rechtssystem kannten, das Recht war die Rache der Verwandten. Da die Staaten der EU über souveräne Rechtssysteme verfügen und die private Rache strikt verboten ist und verfolgt wird, gibt es meiner Meinung nach keinen Grund mehr, inzestuöse Beziehungen als gesellschaftsbedrohend zu verbieten – wobei auch die vermeintliche ,Autorität’ älterer Verwandter in diesem Sinn als ,Gewalt’ zu werten ist.

Zerstörerisch ist heute die ignorante rücksichtslose Verfolgung des gewaltfreien Inzests unter Erwachsenen, und zwar für die beteiligten Individuen, nicht zuletzt für die Kinder, die einer solchen Verbindung entstammen. Werden die dann alle in Heime gesteckt, während die Geschwister-Eltern im Gefängnis sitzen?

Carl Andrea Franz,

Berlin-Charlottenburg

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