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Ein Volkswagenlogo an einem VW Golf vor dem Unternehmenssitz von VW.

© Hauke-Christian Dittrich/dpa

Musterfeststellungsklage gegen VW: Warum Volkswagen die Kunden jetzt ernst nehmen muss

Am Jahresende drohen die Ansprüche vieler VW-Kunden zu verjähren. Wer sich an der Musterfeststellungsklage beteiligt, verhindert das. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Heike Jahberg

Der unter Juristen wohl bekannteste Spruch geht so: „Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand.“ Wie ein Prozess ausgeht, ist nicht berechenbar, heißt das. Recht haben und Recht bekommen ist nicht immer automatisch dasselbe.

Das haben viele der Menschen zu spüren bekommen, die im guten Glauben einen Diesel gekauft und jetzt nur Scherereien haben. Im schlimmsten Fall drohen ihnen Fahrverbote. Doch wer versucht, Volkswagen oder andere Autokonzerne vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen, braucht einen langen Atem, viel Geld oder eine Rechtschutzversicherung. Denn im deutschen Rechtssystem gilt: Jeder klagt für sich selbst. Sammelklagen wie in den USA, wo Anwälte Fälle Betroffener sammeln und bündeln, gibt es hierzulande nicht. Das spielt Großkonzernen in die Hände. Geld ist für sie kein Thema. Sie können beliebig durch die Instanzen ziehen und Zeit gewinnen. Und sollte doch eine Niederlage vor Gericht drohen, bieten die Firmenanwälte den Klägern so viel Geld für einen Vergleich, und die ziehen dann ihre Klage zurück.

Das ist der Grund, warum es im Jahr drei der Dieselkrise noch immer keine höchstrichterlichen Urteile zu der Frage gibt, ob und wie die Autokonzerne für ihre Manipulationen haften müssen. Insofern ist die Musterfeststellungsklage, die seit Donnerstag möglich ist und umgehend von Verbraucherschützern und dem ADAC gegen VW eingereicht wurde, eine Zeitenwende. So einfach wie bisher wird sich der Konzern nicht mehr aus der Verantwortung stehlen können. Am Ende des Prozesses werden nämlich einige Fragen grundlegend geklärt sein: Muss VW haften? Was können die Kunden verlangen? Müssen Händler das Auto zurücknehmen? Gibt es Schadenersatz? Wie wird der Schaden berechnet?

Klagen muss ein Verband

Ein Selbstläufer ist allerdings auch das neue Instrument nicht. Die Musterfeststellungsklage ist so sperrig wie ihr Name. Klagen muss ein Verband. Verbraucher, die mitmachen wollen, müssen sich in ein Register eintragen lassen. Nach dem Urteilsspruch im Musterprozess muss jeder Kunde seinen individuellen Schadensersatzanspruch selber geltend machen – immerhin mit guten Aussichten auf Erfolg.

Das ist kompliziert, und natürlich hätte man sich einfachere, verbraucherfreundlichere Lösungen gewünscht. Doch die CDU-geführten Ministerien haben jahrelang alle Initiativen abgebügelt, um die Wirtschaft vor amerikanischen Sammelklagenverhältnissen zu schützen. Herausgekommen ist mit der Musterfeststellungsklage ein Kompromiss. Er ist besser als nichts. Und er ist für die Kunden günstiger als die Alternative, die Prozessfinanzierer wie My Right bieten. Denn dort müssen die Verbraucher einen Teil ihres Schadenersatzes abgeben, wenn die Klage Erfolg hat. Bei der Musterfeststellungsklage nicht.

Dieselgate hat Millionen von Autofahrern Probleme beschert. Was das deutsche Rechtssystem angeht, hat sich der Skandal jedoch als nützlich erwiesen. Ohne die Abgasaffäre würden Union und SPD wahrscheinlich heute noch streiten. Doch am Jahresende drohen die Ansprüche vieler VW-Kunden zu verjähren. Wer sich an der Musterfeststellungsklage beteiligt, verhindert das. Der Zeitdruck und der drohende Kollektivzorn von Millionen Autofahrern haben dazu geführt, dass sich auch die Union bewegt hat. Spät, aber nicht zu spät.

Die wahre Bedeutung des Instruments geht aber über den Fall VW hinaus. Denn viele Verbraucherärgernisse bleiben bislang ungeahndet, weil sich Prozesse für den einzelnen Kunden nicht lohnen. Das wird sich ändern. Banken, Fluggesellschaften, Energieversorger und andere müssen damit rechnen, dass Verbraucherschützer Musterklagen beispielsweise gegen überhöhte Preise einreichen. Gleiches gilt für Massenkündigungen von Versicherungen oder Bausparkassen, die ihren Kunden schlechtere Verträge unterschieben wollen. So lange jeder Verbraucher für sich allein kämpfen muss, sind die Kunden schwach. Wenn sich Verbraucher verbünden, sind sie stark.

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