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Landeshauptstadt: Der Mann mit den zehn Schutzengeln

Tagelang wurde Wolfgang Heese im „Lindenhotel“ verhört. Schließlich gestand der damals 19-Jährige, was er nicht getan hatte. 25 Jahre Zuchthaus wegen Spionage lautete das Urteil, fast fünf Jahre saß er in Bautzen ein. W

Tagelang wurde Wolfgang Heese im „Lindenhotel“ verhört. Schließlich gestand der damals 19-Jährige, was er nicht getan hatte. 25 Jahre Zuchthaus wegen Spionage lautete das Urteil, fast fünf Jahre saß er in Bautzen ein. Während Tausende starben, überlebte er wie durch ein Wunder. Von Nicola Klusemann Er war 19, als er verhaftet wurde. Es war an einem kühlen Wintertag, auf Potsdams Dächern lag eine hauchdünne Schneedecke, erinnert sich Wolfgang Heese. Er stand kurz vor dem Abschluss seiner Bäckerlehre in der Bäckerei Hans Rosenburg in der Hoditzstraße (heutige Wilhelm-Staab-Straße). Gegen sieben Uhr verließ er die Backstube, um auf die Toilette zu gehen. Plötzlich sei laut an die Toilettentür geklopft worden. Eine barsche Stimme rief: Sind Sie Wolfgang Heese? Der junge Mann wurde aufgefordert sich umzuziehen. Dann brachte man ihn auf die Polizeiwache. „Die ganze Zeit dachte ich, das kann nur ein riesiger Irrtum sein.“ Heese wurde erkennungsdienstlich erfasst. Ein Fotograf drückte ihm ein Schild mit Nummer 1075 in die Hand und lichtete ihn von vorne und im Profil ab. Anschließend zurück in die Zelle. Am nächsten Tag nach fast schlafloser Nacht dann das Verhör. „Man warf mir Spionagetätigkeit gegen die sowjetische Besatzungsmacht vor.“ Weil Wolfgang Heese den Traum vom Fliegen hatte, hatte er sich zusammen mit einem Freund bei einem Amerikaner in Westberlin nach einer zivilen Pilotenausbildung erkundigt. Ein Bekannter hatte die beiden denunziert und noch dazu gedichtet, dass sie die Kennzeichen von sowjetischen Militärfahrzeugen notiert und an die Westmacht weitergereicht hatten. „Jedenfalls wurde ich während des Verhörs immer wieder gefragt, wie viele Kennzeichen ich weitergegeben hätte.“ Am dritten Tag wurde er entlassen. Vor dem Polizeigebäude wartete ein Auto, dessen Fenster mit Gardinen verhangen waren. Heese wurde in den Wagen gezerrt, seine Augen wurden verbunden. Über eine halbe Stunde dauerte die Irrfahrt. „Trotzdem wusste ich als gebürtiger Potsdamer genau, wohin es geht“ – ins „Lindenhotel“. Im Februar 1949 wurde das berüchtigte Gefängnis in der Lindenstraße 54 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD (später KGB) als Haftanstalt genutzt. Bei seiner Ankunft nahm er russische Stimmen wahr. Die Augenbinde wurde ihm erst in der Zelle Nummer 28 abgenommen: Wenige Quadratmeter, nur eine Holzpritsche als Schlafstätte und ein Holzkübel für menschliche Bedürfnisse. Der Vorhof zur Hölle. Es war verboten tagsüber zu schlafen. Genau mit Beginn der Nachtruhe wurde Wolfgang Heese zum Verhör geholt. Die peinliche Befragung mit stundenlangem Stehen in kaltem Wasser und bei grellem Licht, das die müden Augen blendete, dauerte an bis zum Wecksignal um 6 Uhr. „Ich umklammerte das lauwarme Heizrohr in meiner Zelle und nickte ein.“ Alle zehn Minuten wurde durch den Spion geschaut. Wer döste, wurde mit lautem Gebrüll am Schlafen gehindert. Die Nacht durch dann wieder Verhör. „Und die immer wieder gleiche Frage nach den Autokennzeichen.“ 18 Tage und 18 Nächte, nahezu ohne Schlaf. 100 Gramm Brot täglich, dazu Wasser. Er war am Ende. „Ich wünschte mir, dass sie mich einfach auf den Hof führten, mich an die Wand stellten und erschössen“, erzählt Wolfgang Heese. Danach kam der psychische und physische Zusammenbruch. Der 19-Jährige konnte die Qualen nicht mehr ertragen. „Ich log. Ich gestand, 20 bis 30 Autonummern sowjetischer Militärfahrzeuge notiert und den Amerikanern übermittelt zu haben.“ Warum er denn nicht gleich die Wahrheit gesagt habe, entgegneten ihm seine Peiniger. Dem bis auf die Knochen Abgemagerten wurde schwarz vor Augen, er erlitt einen Nervenzusammenbruch. Endlich durfte er schlafen, gehüllt in einen Militärmantel. Anfang April dann das Urteil, gesprochen von einem sowjetischen Militärgericht: 25 Jahre Zuchthaus wegen Spionage. „Ich lachte wie ein Irrer, obwohl mir zum Heulen war.“ Wolfgang Heese kam nach Bautzen. Zunächst in eine Sammelunterkunft. 250 Mann in einem Schlafsaal. „Rechts von mir schlief einer mit offener Tuberkulose und links von mir einer mit gefährlichem Husten“, erinnert er sich. Er selbst blieb von der meist tödlich endenden Lungenerkrankung verschont. „Ich muss mindestens zehn Schutzengel haben.“ Tausende Häftlinge seien in den ersten fünf Jahren der DDR in dem Gefängnis in Sachsen an TBC und anderen Mangelerkrankungen gestorben. Kontakt nach Hause durfte Wolfgang Heese in den ersten Monaten in Bautzen nicht haben. Ein Mitgefangener sorgte dafür, dass er zur Schrottkolonne kam. Trotz Schwerstarbeit ein vor allem lukrativer Job, weil die Schrottlieferanten die Gefangenen heimlich mit Zigaretten – dem Zahlungsmittel im Knast – versorgten. Außerdem bekam er immer einen Schlag mehr zu essen als Zulage für die strapaziöse Tätigkeit. Wegen der Kontaktsperre und der allgemein schlechten Haftbedingungen gab es 1950 in Bautzen gleich zwei Gefangenenaufstände. Das Skandieren von „Wir haben Hunger, wir haben Hunger“ aus den Kehlen von 7000 Sträflingen sei wohl zehn Kilometer weit zu hören gewesen. Und hatte Erfolg. Danach durften die Angehörigen der Inhaftierten Pakete ins Gefängnis schicken. Die Post nahm dem Ort für einen kurzen Moment seinen Schrecken. Die vier Jahre und achteinhalb Monate im „gelben Elend“, wie der Zellentrakt genannt wurde, waren für Wolfgang Heese hartes Überlebenstraining. „Als junger Mann gibt man nicht einfach auf“, umschreibt er seinen starken Überlebenswillen. Er legte sich „ein verdammt dickes Fell“ zu, das aber seine Anfälligkeit nicht ganz ummanteln konnte. 1954 wurde er, wie viele politische Gefangene, begnadigt. Er bekam neue Kleidung, zehn Mark und einen Entlassungsschein nach Potsdam. Seine Nerven hatten durch die Haftzeit erheblichen Schaden genommen. In Albträumen verarbeitet er bis heute die schrecklichen Erlebnisse von damals. Im Abstand von mehreren Jahren erlitt der heute 74-Jährige zwei Herzinfarkte. Noch vor Vollendung seines sechzigsten Lebensjahrs wurde er Invalidenrentner. Heute hält er sich mit seinem ungebrochenen Lebenswillen, Humor und 500 Metern Schwimmen dreimal in der Woche fit. Seine Geschichte, sagt Wolfgang Heese, sei allein betrachtet ja eigentlich gar nicht so wichtig Er will als Person bescheiden in den Hintergrund treten. Trotzdem erzählt er sie, wider das Vergessen. Sie sei vor allem jenen gewidmet, die nicht überlebten.

Nicola Klusemann

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