zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Mit allen Sinnen

Zum zehnjährigen Bestehen organisierte der Förderverein „Freunde der Oberlinschule“ ein Riesenfest. Die Schüler waren begeistert

Alle sollen sie sehen: Die 15-jährige Julia steht auf der Tanzfläche neben ihrer Freundin, wiegt ihre Hüften und wackelt mit dem Po. Harmonisch bewegen die beiden Mädchen ihre Körper zur Musik. Sie haben die Tanzschritte eingeübt, „zu Hause vor dem Rekorder“. Ganz normale Teenager auf einer Party also. Und doch ist etwas anders: Als die Musik aus ist, humpelt Julias Freundin plötzlich, zieht ihr Bein stark nach.

Alle der mehr als 200 Schüler, die gestern im Treffpunkt Freizeit den zehnjährigen Geburtstag des Fördervereins ihrer Oberlinschule feierten, sind behindert. Manche haben eine Körperbehinderung, andere sind auch geistig behindert oder aber taubblind – wie Martin Krumhauer. Der 26-Jährige sitzt mit seiner Betreuerin auf einem Stuhl an der Wand des Diskoraumes, während sein Vater mit einem kleinen Mädchen im Rollstuhl tanzt. Martin ist der Grund, weshalb am 4. Dezember 1995 der Förderverein „Freunde der Oberlinschule“ gegründet wurde. „Mit ihm fing alles an“, sagt Peter Krumhauer und fährt seinem Sohn liebevoll durchs blonde Haar. Als das Kind des Westberliners nach der Wiedervereinigung auf die Taubblindenschule des Oberlinhauses kam, wäre dieser „so angetan gewesen von der Atmosphäre der Schule“, dass er sofort beschlossen habe, einen Förderverein zu gründen. Er suchte nach anderen Eltern und Lehrern die Zeit und Lust hatten, mitzuarbeiten, Geld zu sammeln, mit dem sie der Oberlinschule Klassenfahrten sponsern, Therapiegeräte und Computer kaufen können. Möglich sei die finanzielle Unterstützung der Schule durch Spenden, aber auch durch die Zuweisungen des Strafgerichts. Die Strafgelder seien die „höchste Einnahmequelle“, meint Gründungsmitglied und Lehrer Jens Müller. 45 Mitglieder hat der Verein mittlerweile und Krumhauer ist immer noch der Vorsitzende, obwohl sein Sohn schon längst nicht mehr zur Schule geht. Martin arbeitet heute in den Behindertenwerkstätten auf Hermannswerder.

Auf der Party ist Martin trotzdem dabei, begegnet ehemaligen Mitschülern und Lehrern. Seine Schulzeit in der Babelsberger Schule hat ihn sehr geprägt, erzählt sein Vater. So gehe es vielen. Darum habe sich der Förderverein auch zum Ziel gesetzt, den Kontakt der Schule zu den Ehemaligen zu fördern. Feste eignen sich besonders dafür – zum Beispiel das Sommerfest, das der Förderverein jedes Jahr ausrichtet.

Julia, die bei einem schweren Autounfall am Gehirn verletzt wurde, feiert jedenfalls oft Partys, erzählt sie und lacht dabei. Sie ist eine Stimmungskanone, kennt sich mit Feiern aus. Doch solch ein Riesenfest wie gestern hat selbst Julia noch nie erlebt. Im gesamten Treffpunkt-Gebäude am Neuen Garten herrscht Trubel. Drei Wochen lang haben Lehrer, Eltern und die vier Zivildienstleistenden der Schule die Feier vorbereitet: Sie haben das Buffet organisiert und die Musikanlage für die Disko, sie haben im Treffpunkt Spielestände aufgebaut und Partyrätsel entwickelt. Aber auch Wickelräume haben die Organisatoren eingerichtet, weil an der Feier auch Schüler teilnehmen, die wegen ihrer Behinderung auf Windeln angewiesen sind.

So wie das Fest sich von anderen Schulfeten unterscheidet, unterscheide sich auch der Unterricht an der Oberlinschule von dem an anderen Schulen, erklärt Lehrer Müller. Er betreut Klassen mit Kindern, die zum Teil schwerstbehindert sind. Da laufe alles „auf einer anderen Zeitschiene“ ab, denn seine Schüler lernen meist sehr langsam – aber dafür „wirklich fürs Leben“, glaubt Müller. So finden die Mathematikstunden hin und wieder in einer Küche statt: Rechnen und messen beim Backen, Teller zählen beim Tisch decken – die Kinder begreifen viel besser in „konkreten Situationen“, wenn „alle Sinne mit einbezogen“ werden. Müller will seine Schüler zur Selbstständigkeit erziehen. Da kann es ein Riesenerfolg sein, wenn ein Schüler nicht mehr gepflegt werden muss, sondern selbst auf die Toilette gehen kann. Und manchmal schafften es seine Schüler sogar ins betreute Wohnen.

Anderen Kindern und Jugendlichen ist ihre Behinderung nicht anzumerken, wie dem zwölfjährigen Adrijan. Ein Junge mit kurzen braunen Haaren und wachen großen Augen. Adrijan ist Epileptiker. Früher ging er auf die Ludwig-Renn-Schule. Doch da sei er öfter von Mitschülern verprügelt worden. Und die Lehrer seien wohl auch etwas überfordert gewesen. Sie hätten ihn während seiner Anfälle manchmal einfach in den Nebenraum geschickt, dort sollte er sich hinlegen. Denn „bei mir merkt man die Anfälle nicht so, ich sehe dann aus, als ob ich schlafe“, erzählt er. In der Oberlinschule gefalle es ihm viel besser. Vor allem „weil keiner einen anderen auslacht, denn hier sind alle behindert“. Auch Julia, die nicht einmal weiß, was genau ihr fehlt – nur dass sie seit dem Unfall eine Brille tragen muss.

Aber wer welche Behinderung hat, interessierte beim zehnjährigen Geburtstag des Fördervereins sowieso niemanden. Es ging allen ums Vergnügen. Und das schienen die Oberlinschüler gestern zu haben, beim Karaoke-Singen, beim Schminken oder Dosen werfen und beim Tanzen. Sie haben die Party genossen – mit allen Sinnen.

Juliane Wedemeyer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false