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Kultur: Amok und Schweigen

Premiere von Ines Geipels Buch „Für heute reicht’s“ in Potsdam

Premiere von Ines Geipels Buch „Für heute reicht’s“ in Potsdam Von Antje Strubel „Für heute reicht´s.“ So lapidar beendet Robert Steinhäuser seinen Amoklauf im Erfurter Gutenberg-Gymnasium im April 2002. Er beschließt damit nicht nur die größte Mordserie in Deutschland seit 1945. Sein Amok wird auch zu einem der größten Medienspektakel der letzten Jahrzehnte. Mit Steinhäusers finalem Satz hat die Autorin Ines Geipel ihr soeben erschienenes Buch (Rowohlt Berlin, 16,90 Euro) betitelt; eine fiktionale Dokumentation zum Thema, die vor allem nachzeichnet, wie erschreckend leicht das Vertuschen und Verschweigen in dieser Republik funktioniert. Trotz des Medienechos, so die Autorin im Vorwort, sei dieser Amoklauf bisher völlig unaufgeklärt. Obwohl zeitweise bis zu 3000 Medienvertreter Gymnasium und Stadt belagerten, selbst die Kerner-Show hatte ihr Party-Zelt errichtet, wurde doch nur immer noch eine Schicht betäubender Bilder mehr über ein Ereignis gebreitet, das immerhin brutal die Grundfeste dieser Gesellschaft erschüttert. Massenwirksam inszenierte Trauer, zu mehr schienen Medien und Politik in dieser Situation nicht in der Lage. Differenziertere Betrachtungen werden unterspült von einer großen Welle lauwarmer Bequemlichkeit und Harmonie. Ines Geipels Buch zeigt Widersprüche auf, die eklatanten Mängel in der Rettungsaktion von SEK und Notärzten während des Amoklaufs, sie zeigt, wie diese Mängel von seiten der Einsatzleitung oder der thüringischen Landesregierung vorsätzlich verschwiegen werden. Die Angehörigen der Opfer sind die unbequemsten Figuren dieser Geschichte. Sie sind die Sandkörner in einer ansonsten routinierten Verarbeitungsmaschinerie, in der nichts und niemand in Frage stehen darf. So schafft dieses Buch zwei Dinge gleichzeitig: Indem es die Folgen der Tat unter die Lupe nimmt, beschreibt es darin gleichzeitig einige ihrer Ursachen. Denn die Zeit danach scheint sich von der davor nicht besonders zu unterscheiden. Alles auf Anfang. Elsa, ehemalige Schülerin des Gutenberg-Gymnasiums und derzeitige Studentin an der Ernst-Busch-Schauspielschule Berlin, ist von dem Ereignis persönlich betroffen. Ihre Eltern wohnen noch in Erfurt, mit Robert Steinhäuser ist sie zur Schule gegangen. Bei Geipel wird Elsa zu einer literarisierten Figur, die sich nach der Katastrophe entschließt, nach Erfurt zu fahren, um nach den Hintergründen zu forschen. Sie ist die erzählerische Instanz, die mit jedem Kapitel des Buches eine neue Frage aufwirft. Gleichzeitig holt sie als biografisch Person das Geschehen aus der Distanz des Dokumentarischen in den Radius persönlicher Erfahrung. Durch ihre Augen wird die Jugendszene beobachtet: rechte Skins, aufgeschreckte Schüler, Drogenkids, die Junge Gemeinde, LAN-Partys. Robert Steinhäuser erscheint als unscheinbarer Background-Typ mit idiotischen Witzen, der nicht unbedingt dem Medien-Klischee des einsamen Außenseiters entspricht. Auch die Welt der Computerspiele wirkt so betrachtet reichlich dünn als Begründung seiner Tat und kann höchstens als Teil eines Konglomerats verschiedenster Ursachen gelten. Elsa sucht die Hinterbliebenen auf, ihre ehemaligen Lehrer, die Mitschüler, nur die Eltern Steinhäuser bleiben seltsam ausgeklammert. Sie öffnet den Blick auf ordnungsfanatisches Kleinbürgertum, desorientierte Familien, Regierungsaffären und auf eine Polizei, die bis heute den Verdacht auf einen zweiten Täter nicht ausräumen konnte. Mit Elsa kehrt die Autorin vorsichtig auch in die Geschichte zurück. Bei einem Besuch im Konzentrationslager Buchenwald wird einmal mehr deutlich, daß das Verschweigen nicht gerade angenehme Traditionen hat. In Erfurt trifft Elsa auf Menschen, die das „Sichern von Unauffälligkeit“ aus DDR-Zeiten jetzt gegen Flexibilität und Effizienz einzutauschen angehalten sind und die sich nach wie vor damit beschäftigen, vor allem kein Aufsehen zu erregen. Was über Thüringen hinaus exemplarisch sein könnte für die Nachwendezeit. Dagegen wird der bis an die Schmerzgrenze sachliche Bericht des Amoklaufs geschnitten. Gestützt auf Zeugenvernehmungen und Polizeiberichte vollzieht Geipel überdeutlich den Weg des Schützen durch die Schule nach, Zeitpunkt und Todesart seiner Opfer, die Ahnungslosigkeit von Schülern und Lehrer, die Lähmung, die über allem liegt. In diesen harten Gegenschnitten zeigt sich die Haltung der Autorin, die es vermeidet, schnelle Schlüsse zu ziehen. Eine Haltung, die viemehr auf Recherchen, Interviews und einem sensiblen Blick beruht. Ähnlich wie mit ihrem Buch über den Doping-Mißbrauch an Frauen im DDR-Spitzensport reiht sich Geipel auch hier in die Tradition der „docu-fiction“ ein; ein vor allem im Amerikanischen geprägtes Genre des analytischen, untersuchenden Erzählens, deren berühmteste Vertreterin Joan Didion sein dürfte. Dieses Erzählen weiß, daß Objektivität auch in einer Dokumentation nicht zu haben ist, die immer vom persönlichen Blick der Autorin abhängt, und sie also gar nicht erst behauptet. Auf der Grenze zwischen den Fakten und einer schwebenden Subjektivität entfalten sich vielmehr Perspektiven auf ein Geschehen, wie es gewesen sein könnte. So kommt der Text möglicherweise der Wahrheit am nächsten, die von verschiedenen Standpunkten aus gesehen immer eine andere ist. „Für heute reicht´s“ ist allerdings auch ein Buch, das sich nicht scheut, konkret zu werden und Probleme zu benennen, selbst wenn es damit den postmodern angesagten Vorwurf der Vereinfachung einer an sich unerklärbaren und überaus komplexen Welt auf sich ziehen könnte. Ein Vorwurf, der allerdings häufig nur einer verharmlosenden Gemütlichkeit, einer biederen Ruhe zum Vorwand dient. Buchpremiere am heutigen Donnerstag um 19.30 Uhr in der Landeszentrale für politische Bildung, Heinrich-Mann-Allee 107, Haus 17, Einfahrt Friedhofsgasse. Veranstaltung gemeinsam mit dem Brandenburgischen Literaturbüro.

Antje Strubel

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