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Kultur: Die beste Welt?

Castellos „Die Form der Dinge“ bei den Tanztagen

Castellos „Die Form der Dinge“ bei den Tanztagen Die Bühne ist leer. Auf die weiße Brandmauer ist groß das Zifferblatt einer Uhr projiziert. Ein Gong und der einzige Zeiger, ein Sekundenzeiger, läuft los. Während das Publikum langsam den Saal der fabrik füllte, um Roberto Castellos „La forma delle cose“ („Die Form der Dinge“) zu sehen, lief ein Zusammenschnitt aus dem italienischen Fernsehprogramm: Werbespots, MTV, Filmszenen, George W. Bush, Fußball. Verschiedene Blicke auf die Gegenwart wolle er mit seinem zehnteiligen Projekt eröffnen, das nach dem Leibniz-Zitat „Die beste aller möglichen Welten“ benannt ist. Dies erzählte der Italiener Roberto Castello im anschließenden Publikumsgespräch. „La forma delle cose“ ist der erste Teil. Als der Sekundenzeiger loslief, blieb die Bühne anderthalb Minuten leer und still. Nur der Gong ertönte, der jede neue Minute einläutete. Dann betrat eine Tänzerin die Bühne, doch sie stand nur da. Erst mit Beginn der dritten Minute verfiel sie in einen zuckenden Tanz, nach den Geräuschen und Musikfetzen einer schnell durchlaufenen Radioskala, mit dumpfem Beat unterlegt. Zu dem ausgelassenen Gehampel machte die Tänzerin ein todernstes Gesicht. Als der Gong ertönte, unterbrach sie sich abrupt. So reihte sich Minute an Minute, fast jede unterbrach die Aktion der vorigen und brachte etwas völlig anderes. Ein Paar, das ineinander verknotet aneinander vorbeiredet, silbenweise. Eine Frau (Silvia Mercuriali), die ihren zwei Freundinnen eine Story erzählt. Die Freundinnen sitzen apathisch rechts und links von ihr und werden mit beherzten Griffen gnadenlos miteinbezogen. Dann kreischen drei Frauen los (Marta Lucchini, Valerie Erken, Alessandra Moretti) und beginnen hektisch, sich fertig zu machen: Nagellack, Deo, Schminken. Eine Minute hysterisches Kreischen. Mit dem Gong erstarren sie in grotesken Gesten mit aufgerissenen Mündern. Nur eine von ihnen wird, in absoluter Stille, von dem Mann zum Tanz ausgeführt, der in Zeitlupe angedeutet wird. Obwohl die tänzerischen Elemente des performativen Stückes nur eine Ausdrucksart unter anderen waren und gebrochen oder zerstückelt wurden, war das hohe tänzerische Niveau zu sehen, das den Bewegungen eine enorme Ästhetik verlieh. Doch auch das komische Talent der Truppe begeisterte. Mit Mut zum Grotesken und ironischem Witz jagte eine skurrile Situation die nächste. Stets hielt sich erwartungsvolle Spannung auf das, was nach dem folgenden Gong wohl geschehen würde. Nicht einfach sei es gewesen, erzählte der Tänzer Stefano Questorio im anschließenden Gespräch, die Minuten voneinander zu trennen und das Erzählen einer durchgehenden Geschichte zu vermeiden. Castello spielte mit dem Drang, in allem ein sinnvolles Nacheinander sehen zu wollen. Und er spielte mit der Zeit. Plötzlich lief der Zeiger rückwärts. Über der Uhr war die Videoprojektion der Twintowers zu sehen. Die Staubwolke wurde kleiner, der Feuerball verschwand und schließlich flog ein Flugzeug von dannen. Währenddessen rannte auf der Bühne ein Tänzer umher, als sei er gefangen und wüsste nicht wohin. Warum bloß läuft die Zeit rechts und nicht links herum? Das Publikum klatschte verhalten. Es war mehr als einmal irritiert worden. Mit Papphüten, die niemand erklärte. Mit einer Pause, die erst 2, dann 7, 9, 3 und schließlich noch 1 Minute dauern sollte. Und dann standen die Darsteller zur italienischen Nationalhymne in Superman-Kostümen in einer Reihe. Und verbeugten sich auch noch uneinheitlich. Ein spannender Abend. Dagmar Schnürer

Dagmar Schnürer

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