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Kultur: Was nicht alles wahr sein soll

Friedrich Dürrenmatts „Abendstunde im Spätherbst“ am Hans Otto Theater

Friedrich Dürrenmatts „Abendstunde im Spätherbst“ am Hans Otto Theater Von Dirk Becker Wahrheit, das sei nur die Erfindung eines Lügners. So zumindest die entwaffnende Feststellung eines, wie fast immer bei derartigen Äußerungen, weisen aber unbekannten Mannes. Was im Umkehrschluss bedeuten würde, dass in jeder Lüge immer auch Wahrheit steckt. Wahr ist also, was man für wahr halten will. Und für manchen heißt dies, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Das sagte auch ein weiser Mann, doch dessen Namen ist uns bekannt: Christian Morgenstern. Dem pensionierten Buchhalter Fürchtegott Hofer ist Morgensterns Feststellung zum alles prägenden Leitsatz geworden. Für ihn, der durch seine Arbeit mit Zahlen, mit dem Logischen geschult und geprägt ist, für ihn muss alles erklärbar sein. Und erklärbar ist nur, was auch wirklich geschah. 22 Bücher hat der, von Hofer so verehrte Schriftsteller und Nobelpreisträger Maximilian Friedrich Korbes geschrieben. 22 Bücher, in denen 22 Morde geschehen. Morde, die für Hofer so grandios beschrieben sind, dass sie nicht allein der Fantasie entsprungen sein können. In „Abendstunde im Spätherbst“, lässt Friedrich Dürrenmatt den unscheinbaren Buchhalter Hofer auf den schillernden Korbes treffen. Dieses, 1956 geschriebene, kurze, aber arg durchtriebene Kriminalhörspiel, das später verfilmt und für das Dürrenmatt mit dem Prix Italia ausgezeichnet wurde, brachte die Regisseurin Isabel Stahl in der Werkstatt-Reihe „Blauer Montag“ im Hans Otto Theater auf kleine Bühne. Der Hörspielcharakter wurde beibehalten und so saßen Jörg Seyer als Korbes und Henrik Schubert als Hofer vor zwei Mikrofonen und ließen fast nur ihre Stimmen arbeiten. In seinem Hotelzimmer trifft Korbes, dem Dürrenmatt überdeutlich Züge von Ernest Hemingway verpasste, überraschend auf Hofer. Der, unterwürfig-schmeichelnd, wird von Korbes erst für einen Schnorrer, dann, schlimmer noch, für einen Kritiker gehalten. Zweimal entgeht Hofer nur knapp dem Rauswurf, bis er mit der Sprache rausrückt. Über zehn Jahre ist er Korbes gefolgt und hat mit detektivischer Akribie all die Morde, die dieser in seinen Romanen beschrieben hat, in der Wirklichkeit wiedergefunden. Er fand das, was er finden wollte. Und Korbes gibt die Morde zu. Erklärt dem verdutzten Hofer, dass alle Welt dies auch wisse, denn nur weil er darüber schreibe, was er wirklich erlebt, getan hat, sei er so erfolgreich. Denn nichts interessiert den Menschen so sehr, wie das, was andere, vor allem bekannte Menschen so treiben. Und weil der Pöbel sich als Nimmersatt geriert, gibt er ihm das, was dieser sehen will und macht somit die Fiktion, die Lüge zur Wahrheit. Mit „Abendstunde im Spätherbst“ ging Dürrenmatt gegen eine immer mehr um sich greifende Fantasielosigkeit im Schriftstellergewerbe vor, die sich für ihn in der Person Hemingways manifestierte, der für ihn nur über das schreiben konnte, was er selbst erlebt hatte. Rückblickend mag diese Kritik überzogen erscheinen. Doch wenn man all die Bohlen, Feldbuschs und Küblböcks von heute betrachtet, die ihre blassen und nichtssagenden Häute mit unglaublicher Penetranz zu Markte tragen und das mit reichlichem Erfolg, dann erscheint einem Dürrenmatts Hörspiel aktuell wie nie. Seyer und Schubert spielten dieses Hin und Her, das mal feine, mal rabiate Dialogisieren zwischen Wahrheit und Lüge, Fiktion und Wirklichkeit, meisterhaft. Jörg Seyer mit rauer auftrumpfender Stimme als whiskeykippender Korbes. Henrik Schubert als geduckter Hofer, der sich nur einmal triumphierend versucht aufzurichten, um vom finalen Schicksalsschlag ereilt zu werden. Doch auch der Zuhörer war in dieses Spiel von Wahrheit und Lüge eingesponnen. Verkündete doch am Anfang eine resolute Irmtraud Schöps, die als Korbes Sekretärin später drei Sätze von sich gab, dass dieses Stück aufgezeichnet werde und später im Radio zu hören sei. Jegliches Geräusch, selbst Husten habe zu unterbleiben. Tatsächlich herrschte dann Mucksmäuschenstille und mancher wird in dem Glauben nach Hause gegangen sein, dass das mit der Aufnahme die reinste Wahrheit sei.

Dirk Becker

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