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Essay: Wie kommt das Märchen in die Welt

Die Potsdamer Schriftstellerin Antje Rávic Strubel über böse Geister im Haus und den schwierigen Umgang mit ihnen.

Zwischen Weihnachten und Neujahr war in meinem Haus das Abwasserrohr verstopft. Der Hauswart klingelte. Er bat darum, die Waschmaschine nicht zu benutzen; sicherheitshalber. Zwischen den Jahren soll man keine Wäsche waschen. Aber es war möglich, dass jemand diesen Aberglauben nicht mehr kannte, nichts mehr wusste von den Urgeistern, die in diesen dunklen Tagen verrückt spielten, und die Waschmaschine anwarf und so direkt ins Unglück lief. Die Urgeister würden das nicht verzeihen. Sie sind auf wilden Jagden unterwegs, und kein Urgeist bleibt gern in einer Wäscheleine hängen (oder verbrennt sich an der aus dem Trockner austretenden Heißluft). Im Hof hinter dem Haus lockerten Klempner die Pflastersteine, um an die darunterliegenden Leitungen zu kommen, im Haus stank es wie früher auf den Plumpsklos, im Keller sammelte sich Wasser, und ich machte meine Waschmaschine nicht an. Mich wundert es nicht, dass in meinem Haus die Rohre verstopfen. Erst im letzten Herbst platzte ein Rohr und durchnässte eine ganze Etage. Es wundert mich nicht, dass das Haustürschloss alle drei Wochen klemmt und der Fahrstuhl nicht funktioniert, oder wenn, dann so langsam, dass man jederzeit befürchten muss, stecken zu bleiben. Es hätte mich nicht gewundert, wenn beim letzten Sturm das Dach weggeflogen oder der Heiztank explodiert wäre, und es würde mich nicht wundern, wenn ein starker Regen demnächst das Fundament wegspült. Und das hängt nicht mit den sich verschärfenden Wetterbedingungen zusammen.

In dem Haus, in dem ich wohne, haust ein böser Geist. Er gehört nicht zu den Urgeistern, und er ist das ganze Jahr unterwegs, nicht nur die zwei Wochen zwischen Heiligabend und dem Tag der Heiligen Drei Könige. Er ist auch nicht wirklich Geist. Er hat einen ziemlich schwerfälligen, grobschlächtigen Körper, der vor allem dazu dient, beim Sprechen die Worte aus sich herauszupumpen, da ihm das schlichte Reden nicht gelingt. Er hat weißes, zu einer Ziegelform geschnittenes Haar, auch er selbst sieht aus wie ein Ziegelstein. Das mag von seinem früheren Beruf herrühren. Bevor er das Haus, in dem ich wohne, nach der Wende kaufte und die Mieter vertrieb, um es zu sanieren und die Wohnungen teuer weiterzuverkaufen, arbeitete er als Maurer in Baden-Württemberg. Mittlerweile fährt er drei verschiedene Autos, alle auf Pump. Nach außen hin ist das Haus, in dem ich wohne, ein schönes, elegantes Gründerzeithaus mit alten Fenstern, Dielen und Stuck. Man sieht ihm sein Schicksal nicht an. Im letzten Herbst konnte man es allerdings erahnen, als das Schild eines Maklerbüros an der Fassade hing. Es hing dort zu lange. Dachwohnungen in so einem Haus wären in Potsdam in Windeseile verkauft. Hier tat sich nichts. Mittlerweile ist das Schild wieder weg, die Wohnungen scheinen leer zu stehen.

Ich glaube nicht an Geister. Aber das Böse ist eine andere Sache. Sieben Jahre in diesem Haus haben mich gelehrt, dass das Böse, mag es noch so banal sein, in einigen Fällen tatsächlich in gefährlicher Reinform vorkommt und nicht mit einem mörderischen System, einer schlechten Kindheit oder einer schlechten Laune wegzuerklären ist. Man bekommt es überhaupt nicht weg. Denn dazu müsste ihm irgendein Sinn zugrunde liegen, es müßte einer inneren oder äußeren Logik folgen, aber sieben Jahre in diesem Haus zeigen, dass es manchmal keine gibt. Manchmal ist das Böse so leer und sinnfrei wie ein Ziegelstein, der einem auf den Kopf fällt.

Nach innen hin überformt das Schicksal dieses Hauses bald seine Eleganz. Keine der Wohngeldabrechnungen der letzten fünf Jahre wurden beschlossen. Das Haus hat zwei Hausverwaltungen verschlissen, und kurz vor Weihnachten wurde die Lage kritisch, als ein verwalterloser Zustand einzutreten drohte: Das verstopfte Abflussrohr hätte nicht repariert werden können, denn niemand wäre dafür zuständig gewesen, die Klempner zu bestellen. Die Klempner hätten auch gar nicht bezahlt werden können. Keine der laufenden Kosten hätten bezahlt werden können, und im neuen Jahr wären die Heizungen kalt gewesen. Der einzige Ausweg führte, wie die letzten fünf Jahre schon, vor Gericht. Ich bin in diesem Zusammenhang auf einen interessanten Begriff gestoßen: Kautschukparagraf. Das ist ein Paragraf, der in alle Richtungen dehnbar ist. Ich habe den Eindruck, von solchen Paragrafen umgeben zu sein, denn seit fünf Jahren gewinnen wir alle Prozesse gegen den Maurer, aber nichts ändert sich.

Er hat sich die Stimmenmehrheit in der Wohnungseigentümergemeinschaft erschlichen. Zu Beginn hatten alle Eigentümer eine Stimme. Aber der Maurer, nennen wir ihn X, überschrieb seiner Frau, seinem Hausmeister und seiner Masseurin Eigentum an diesem Haus und bekam von allen Dreien, die nicht im Haus wohnen und bei den Versammlungen nie anwesend sind, die Vollmacht, in ihrem Namen zu sprechen. Seine Frau kommt aus Osteuropa. Sein Hausmeister hatte einen Schlaganfall. Die Masseurin rief ich einmal an. Sie lebt in Hannover, und ich erzählte ihr, dass X der Eigentümergemeinschaft 20 000 Euro schulde. Er hatte das Geld den anderen Eigentümern in Rechnung gestellt, um damit den Hausmeister zu bezahlen. Der Hausmeister hatte allerdings die privaten Dachgeschosswohnungen des Maurers damit ausgebaut. Der Masseurin war das egal. Oder sie verstand das Problem nicht. Ich sagte, dass es auch ihr Geld sei, was X veruntreut habe, aber als ich wissen wollte, ob sie X weiterhin mit ihrer Stimme bevollmächtigen wolle, wurde sie unwirsch: „Die Wohnung ist eine Anlage. Ich hab keine Lust, mich darum zu kümmern. Und die Geldsachen macht alle mein Mann.“ Seitdem steht es in jeder Eigentümerversammlung drei zu vier. Mit seiner Stimmenmehrheit blockiert X jeden Vorschlag, solange er nicht von ihm kommt, selbst wenn er für ihn von Vorteil sein könnte. Er kann nicht anders. Lieber beleidigt er Handwerker und Mitarbeiter von Hausverwaltungen, auch bei den Potsdamer Behörden dürfte X mittlerweile kein Unbekannter mehr sein. Oder er schreibt Drohbriefe, in denen sich das baden-württembergische und das juristische Deutsch bunt miteinander vermischen, als wäre die Sprache eine Berg-und Talfahrt, auf der er sich, Halt suchend, an Fremdworten festklammert, um nur noch tiefer in den Abgrund gestoßen zu werden. Er kommt mir vor wie einer, der nach der Wende zum Goldsuchen in den Osten aufbrach und vor lauter Schaufeln nicht mitbekommen hat, dass die goldenen Zeiten vorüber sind. Das Gold liegt schon lange woanders, aber X schaufelt wütend weiter, und längst versenkt er dabei sein eigenes Vermögen.

Als wir das veruntreute Geld schließlich einklagen wollten, nahm X sich den besten Anwalt für Wohnungseigentumsrecht. Der Anwalt riet zu einem Vergleich, dem X zustimmte. Er erklärte sich bereit, einen Teil des Geldes zurückzuzahlen. Das war 2009. Seither wird jede neue Hausverwaltung mit fadenscheinigen Gründen von ihm abgesetzt, sobald sie das säumige Geld von ihm vollstrecken will. Und jedesmal reichen wir, die übrigen Eigentümer, dagegen Klage ein. Auf diese Weise halten wir Richter und Anwälte beschäftigt, nicht nur am Potsdamer Amtsgericht, auch am Landgericht in Frankfurt/Oder, die sich jedesmal neu durch dicke Aktenberge wühlen, sinnlose Klage- und Einspruchbriefe lesen, bis am Ende kein Mensch mehr durchsieht. Das ist die Taktik von X. Er macht Terror, und zwar so lange, bis alle ermüdet sind. Seine Anwaltskosten müssen mittlerweile höher sein als die Summe des Geldes, das er uns schuldet. Wie gesagt: Manchmal sind Handlungen leer und sinnfrei wie Ziegelsteine. Aber wir ermüden nicht. Außerdem bin ich Schriftstellerin. Mich interessiert diese Idiotie. Mich interessiert auch ein Rechtssystem, in dem einer, der schon lange verklagt ist, immer wieder entschlüpfen kann. Mich interessieren solche Verkorkstheiten, die das Gerechtigkeitsempfinden auf eine Weise durcheinanderbringen, dass sich am Ende Gut und Böse relativieren und alles erlaubt scheint, wenn es nur ordentlich gedehnt wird. Hier scheint die Ursache für ein Phänomen zu liegen, das nicht nur im Kleinen wie im Fall von Maurer X, sondern mittlerweile überall beobachtet werden kann: Kräfte entstehen, die die Menschen ihres klaren Selbstgefühls berauben und damit ihrer Fähigkeit zur Emphatie. Das zeigen Fernsehshows, die auf Demütigung ihrer Gäste setzen, Shitstorms im Internet, Filmkritiken, die Halbpornografisches zum Ereignis der Saison erklären, Politiker, die trotz massenhafter Versklavung von Frauen an der Legalität von Prostitution festhalten, statt die Freier zu bestrafen. Und einem Justizminister, der Mitleid mit dem Vergewaltiger hat, statt mit dem vergewaltigten Mädchen, ist der gesunde Menschenverstand auch längst abhanden gekommen. Wenn alles zu Kautschuk wird, geht einem schon mal der Überblick verloren.

Wo aber Ursache und Wirkung nicht mehr klar auszumachen sind, werden andere Modelle nötig, um Ungerechtigkeiten zu erklären. So entstehen Märchen. Zunächst beginnt alles mit einem verstopften Rohr und einem Typen, der nicht bei Verstand ist, und irgendwann gehen die Verbindungen verloren, und zurück bleibt das vage Gefühl, dass etwas nicht stimmt, dass es stinkt, dass irgendein Unglück das Haus, in dem ich wohne, heimgesucht hat, und je weiter sich Vorstellung und Wirklichkeit voneinander entfernen, umso größer wird die Angst, die schließlich von der Gestalt eines bösen Geistes gebannt wird, der sie schön am Köcheln hält. Und eines Tages sind Ursache und Wirkung so verkehrt, dass man sich selbst die Schuld am Unglück gibt: Hätte man die Waschmaschine bloß nicht angestellt! Dann wäre auch der böse Geist nicht herausgefordert worden.

Antje Rávic Strubel

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