zum Hauptinhalt
19.09.2020, Belarus, Minsk: Polizeibeamte versuchen Nina Bahinskaya, eine 73 Jahre alte Frau, am Rande einer Demonstration gegen die Wahlergebnisse in Belarus wegzutragen. Trotz Gewaltandrohung durch die Polizei in Belarus (Weißrussland) haben sich Frauen in Minsk zu einem neuen Protestmarsch gegen Staatschef Lukaschenko versammelt. Foto: Uncredited/TUT.by/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

© dpa/Uncredited

Journalisten in Belarus: Gestehe, was du nicht begangen hast

Die Lage für Journalisten in Belarus hat sich weiter verschärft: Sie sind inhaftiert, eingeschüchtert oder im Exil.

Von Hanna Pinchuk

Vier Jahre nach den landesweiten Protesten in Belarus verschärft sich die Lage für Journalisten weiter. Mit der Verhaftung von 36 Journalisten hat das Land einen bedenklichen dritten Platz in der Liste der inhaftierten Journalisten eingenommen – nur China und Myanmar übertreffen diese alarmierende Zahl. Selbst das autokratische Russland, das eine Bevölkerung hat, die 15 Mal größer ist als die von Belarus, liegt in dieser traurigen Statistik hinter Belarus zurück.

Inzwischen haben alle unabhängigen Medien, die über politische Themen berichten, das Land verlassen und operieren nun im Exil. Die wenigen verbliebenen Journalisten in Belarus balancieren auf einem schmalen Grat: Sie müssen entweder das Land verlassen oder sich nach anderen Berufsmöglichkeiten umsehen, doch selbst das bietet keine Garantie für Sicherheit. Bis heute werden Medienschaffende wegen ihrer Berichterstattung vor vier Jahren vor Gericht gezerrt.

„Terroristen“ mit Stift und Block

Im März dieses Jahres wurde ein ehemaliger Journalist von Radio Free Europe, Ihar Karnei, zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Ihm wird vorgeworfen, eine Serie von Artikeln für die Webseite des Belarussischen Journalistenverbandes verfasst zu haben, der bereits zuvor als extremistisch eingestuft worden war. Dies bedeutete, dass Karnei laut den Behörden zur extremistischen Tätigkeit beigetragen habe. Aufgrund ähnlicher Anklagen befinden sich auch andere Journalisten weiterhin hinter Gittern.

Die Terrorliste der Republik Belarus, die bis zum Jahr 2020 lediglich weltweit gesuchte Verbrecher enthielt, hat mittlerweile 406 belarussische Bürger aufgenommen. Unter den aufgeführten Personen befinden sich auch die Chefredakteurin Maryna Zolatava sowie die Leiterin des meistgelesenen Nachrichtenportals tut.by, Ludmila Chekina.

Die Anklage gegen die beiden lautete darauf, dass die Berichterstattung von tut.by über die Proteste von 2020 Feindseligkeit in der Gesellschaft geschürt und die nationale Sicherheit beeinträchtigt habe. Als Folge haben beide eine zwölfjährige Gefängnisstrafe erhalten.

Jeder entscheidet selbst über seine Überlebensstrategie

Selbst die offiziell gemeldete Zahl von 34 inhaftierten Journalisten (von insgesamt mehr als 1400 politischen Gefangenen) ist höchstwahrscheinlich unvollständig. Ich kenne persönlich mindestens drei Personen, die in dieser Zählung nicht berücksichtigt wurden: einen Kameramann, einen Fotografen und eine Autorin eines Online-Magazins.

Die Gründe dafür sind klar: Je weniger Aufmerksamkeit auf einzelne Fälle gelenkt wird, desto größer sind die Chancen auf ein gnädiges Verhalten seitens der Gefängnisverwaltung. Ob diese Taktik tatsächlich wirksam ist, darüber lässt sich sicherlich streiten. Doch in jedem Fall entscheidet jeder für sich selbst über seine Überlebensstrategie.

Gestehen, was sie nicht begangen haben

Einige Journalisten haben sich dazu entschieden, ein Verbrechen zu gestehen, andere reichen einen Antrag auf Begnadigung ein und einige nehmen sogar an Propagandafilmen teil, in denen sie ihre Kollegen verleumden und diffamieren müssen, um ihre Freiheit zu erlangen.

In Belarus wird oft gesagt, wenn man in “der Gefangenschaft” sei, solle man alles unternehmen, um sich zu retten. Dies wurde deutlich, als zwei Journalistinnen von tut.by gezwungen wurden, ihre ehemalige Chefredakteurin in einem Propagandafilm zu verurteilen. Wenige Wochen nach dieser entwürdigenden Erfahrung wurden die beiden Journalistinnen unter Kaution freigelassen. Sie nutzten die Gelegenheit, um heimlich ins Ausland zu fliehen. Kurz darauf wurden sie vom belarussischen Geheimdienst KGB als „Terroristinnen“ eingestuft.

Die Bedingungen in den belarussischen Gefängnissen sind unerträglich. In den Straflagern werden die Insassen zu kaum bezahlter Arbeit an fünf Tagen in der Woche gezwungen. Die Briefkommunikation ist auf Familienangehörige beschränkt, und in den Untersuchungsanstalten ist es schwer, Hygiene zu wahren: Duschen sind nur einmal pro Woche für fünf Minuten erlaubt, und in den Zellen gibt es kein warmes Wasser.

Hinzu kommt die mangelnde medizinische Versorgung. Selbst kleine Krankheiten hinter Gittern können lebensgefährliche Folgen haben, geschweige denn von schweren Krankheiten wie im Fall der Fernsehjournalistin Ksenia Lutskina.

Die zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilte Dokumentarfilmerin leidet an einem Hirntumor. Bis 2020 arbeitete sie für einen staatlichen Fernsehsender und 2020 wurde zur Vorreiterin des Streikes im Betrieb. Sie plante zusammen mit anderen Kollegen einen alternativen Fernsehsender zu gründen. Kurz vor dessen Start wurde sie festgenommen und wegen Verschwörung zur Machtübernahme durch verfassungswidrige Mittel angeklagt.

Trotz ihrer schweren Krankheit hat Lutskina es abgelehnt, einen Antrag auf Begnadigung zu stellen. Sie betont, dass sie kein Verbrechen begangen habe und keine Schuld eingestehen werde, die ihr zu Unrecht angelastet werde. In Minsk wartet auf sie ein achtjähriger Sohn sowie ihr Vater und Bruder, die voller Sorgen hoffen, dass sie so schnell wie möglich ihre Meinung zum Begnadigungsantrag ändern wird. Die Sorgen ihrer Familie sind begründet: In den letzten vier Jahren sind bereits sechs politische Gefangene in belarussischen Gefängnissen gestorben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false