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Wenn Entscheidungen lange Schatten werfen: 20 Prozent der Eltern in Deutschland bereuen einer Erhebung zufolge, dass sie Kinder bekommen haben.

© dpa

Wenn Eltern ihre Kinder bereuen: Die Angst vor der falschen Entscheidung

20 Prozent der deutschen Eltern bereuen es, ihre Kinder überhaupt bekommen zu haben. Sie sind Opfer ihrer überzogenen Ansprüche an sich selbst. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Der Autor und Essayist David Sedaris warnt in einer seiner Geschichten Paare davor, sich gemeinsam Liebesfilme anzuschauen, weil sie unweigerlich anfangen würden zu vergleichen: Wieso ist die Liebe auf der Leinwand so viel packender, leidenschaftlicher, attraktiver, toller als unsere? Die Folge seien schräge Blicke auf den Partner und die nagende Frage, ob man diese viel tollere Liebe mit einem anderen auch hätte haben können.

Hätte man? Vielleicht. Hat man aber nicht. Und nun?

2014 kam in Deutschland ein Büchlein heraus mit dem Titel „Hätte, hätte, Fahrradkette: Die Kunst der optimalen Entscheidung“. Es griff humoristisch jenen furchtbaren Anspruch der heutigen Zeit auf, den David Sedaris im Kino sitzen sah: alles absolut richtig zu machen, von heute bis in alle Ewigkeit. Es muss alles optimal sein, darunter macht es keiner mehr. Darunter ist falsch, bitte rasch korrigieren. Noch besser: Fehler gar nicht erst machen. Als wäre das möglich.

Gerade wieder wurden die Folgen dieses Anspruchs öffentlich. Das Meinungsforschungsinstitut Yougov hat Eltern befragt, ob es ihnen gefällt, dass sie Kinder haben. 20 Prozent gaben an, lieber keine Kinder zu bekommen, wenn sie sich noch einmal entscheiden könnten. Der vorherrschende Grund für diese Antwort war: „Ohne Geburt des Kindes wäre mein beruflicher Aufstieg besser gelaufen.“ Aber das ist wohl eher eine Annahme, eine Hoffnung, mehr kann es nicht sein, denn wer weiß schon, wie genau es gewesen wäre, wenn...

Die Generation "Vielleicht"

Offenbar wird weniger gern Vertrauen in die Situation, wie sie ist, gesteckt – Motto: „Wird so schon richtig sein“ – und viel lieber in eine Situation, die aus eigener Kraft gar nicht (mehr) erreichbar ist, Motto: „Wäre anders sicher besser geworden.“ Also ist man entweder unzufrieden – oder vermeidet Entscheidungen. Einen Beruf auswählen? Studiere ich mal BWL oder Jura, da steht mir alles offen. Eine feste Partnerschaft? Da schau ich mal ins Internet, vielleicht findet sich jemand Besseres. 300 Euro für ein hochwertiges Kleid? Dann doch lieber Fast Fashion und 60 Billigteile fürs selbe Geld – auch so umgeht man Entscheidungen. Schon ist von der „Generation Vielleicht“ die Rede.

Aber es sind nicht nur die jungen Leute, an denen der ewige Zweifel nagt, das Bessere womöglich zu verpassen. Lerne zu wollen, was du hast, dann hast du, was du willst, ist ein uralter Spruch, und Psychologen widmen sich im zunehmendem Maße dem Umstand, dass Menschen sich selbst unglücklich machen, indem sie sich ein anderes Leben für sich vorstellen, in der Annahme, dann endlich wären sie glücklich. Und die Therapie besteht oft genug darin, die ins Hätte-Wäre-Könnte investierte Energie so umzulenken, dass sie mit dem Leben, wie es ist, Einvernehmen herstellt.

Seit Jahrzehnten hören Kindern von ihren Eltern, dass ihnen die Welt offenstehe und sie alles aus ihrem Leben machen könnten. Was für eine Option! Und was für eine Überforderung, wenn man nicht gelernt hat, Entscheidungen zu treffen und mit denen dann auch zu leben. Das riesige Angebot wird zu einem unübersichtlichen Sumpf potenzieller Fehlentscheidungen. Und auch wenn hierzulande fast alle korrigierbar sind (man kann sich scheiden lassen oder kündigen, und dank medizinisch-technischer Forschungen inzwischen mit Mitte 60 noch Mutter werden), nehmen sich doch Kinder davon aus.

Das Kind als Weg aus der Entscheidungskrise?

Sind sie einmal auf der Welt, gibt es kein Zurück mehr. Man möchte es angesichts dieser unabänderlichen Konsequenz fast als Wunder bezeichnen, dass überhaupt noch welche zur Welt kommen. Allerdings waren 39 Prozent der von Yougov befragten Eltern nicht bereit, das Feld „Mein Kind war ein Wunschkind“ anzukreuzen. Was es dann war, wurde nicht gefragt. Vielleicht eine Art, sich aus dem Spiel der unbegrenzten Möglichkeiten zu nehmen. Das Kind als Pflock, den man zu seiner Entlastung in den Boden rammt: Hier steh’ ich nun und kann endlich mal nicht anders.

Der Politiker Peer Steinbrück machte 2013 als Kommentar zum Wahlkampfsloganreinfall seiner SPD („Das Wir entscheidet“) den Spruch berühmt, den das Humorbüchlein im Folgejahr aufgriff. Er sagte auf die Frage, ob man den Reinfall (der Spruch war bei einer Leiharbeitsfirma abgekupfert) nicht hätte vermeiden können: „Hätte, hätte, Fahrradkette.“ Übersetzt heißt das in etwa: Wozu sich den Kopf zerbrechen über Dinge, die sich nicht mehr ändern lassen? Man könnte das eine dringend verbreitungsbedürftige Weisheit nennen.

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